Interview mit Uwe Steinmetz – „Die Kirche“, Evangelische Wochenzeitung

Herr Steinmetz, Sie beklagen, dass die Musik in evangelischen Gottesdiensten zu sehr an festen Formen hänge und zu wenig Spontaneität aufweise. Wie meinen Sie das?

Es geht mir vor allem um ein neues Erleben der gottesdienstlichen Bestandteile. Und dafür ist es gut, wenn sie auch einmal überraschend interpretiert werden. Das lässt sich erreichen, wenn sie als Grundlage von Improvisationen verstanden werden, wie sie im Jazz üblich sind. Schon in der alten Kirche wurde, z. B. ausgehend von einem Hallelujah frei – und ohne Worte! – vokal improvisiert als Lobgesang, in der evangelischen Kirchenmusik hat es diese Improvisation seit den Zeiten von Bach und Buxtehude immer wieder gegeben.

Können Sie uns ein paar Beispiele nennen für die Art, wie die gottesdienstlichen Elemente durch Improvisation belebt werden?

Vorausschicken möchte ich, dass es nicht darum geht, willkürlich originell zu sein oder die Liturgie aufzulösen. Im Gegenteil, die improvisatorischen Elemente sollen der Liturgie dienen, ihr eine neue Wirkung ermöglichen.

Das geht bei der Liedbegleitung: Ich kann Choräle angepasst an den Raum und an die Art, wie die Leute singen, gestalten. Dann ist ein neues Erleben von alten Strophen oder Texten möglich, die einem irgendwie vertraut sind, aber sonst gar nicht besonders berühren.

Man kann Lesungen gestalten, kontrastierend oder als Kontrapunkt. Man kann auch die Predigt unterbrechen. Das hab ich schon des Öfteren mit Theologen entwickelt, dass verschiedene Abschnitte der Predigt musikalische Kontrapunkte suchen.

Und dann gibt es natürlich als ganz wichtigen Bestandteil die Musik während des Abendmahls. Dabei ist für mich die Bewegung im Raum wichtig geworden. Ich kann mich mit dem Saxophon bewegen, das geht auch mit vielen anderen Instrumenten. So dass ein neuer Raum entsteht, eine neue Situation für die Menschen, die nach vorn gehen zum Altar, dass sie sich anders bewegen können im Raum. Da haben Kollegen und ich mit verschiedenen Formen experimentiert.

Dieser Vorgehensweise steht Ihrer Meinung nach bei vielen Kirchenmusikern eine Art Perfektionsstreben entgegen.

Es ist natürlich nichts dagegen einzuwenden, Kirchenmusik möglichst vollendet aufzuführen. Das Problem ist, dass oft objektive Kriterien angesetzt werden, wie etwas zu klingen hat, die vom Ort und von der Situation unabhängig sind. Dies ginge aber nur richtig gut in Konzertsälen. Die Praxis ist aber, dass jede Orgel anders ist und dass auch jeder Kirchenraum anders ist. Wenn eine Orgel Bach nicht hergibt, warum spiel ich darauf Bach? Es ist dann doch besser zu sagen, ich diene diesem Raum, den Menschen, die da sitzen, und wenn die Orgel zu schlecht klingt, spiel ich eben nicht Bach, sondern improvisiere vielleicht mal und werde den Raum und den Menschen gerechter. Diese Beweglichkeit fordere ich ein, weil das die Kirche international liturgisch erneuert. Denn wir leben in einer Zeit, wo manche alte Form inhaltsleer scheint wenn sie so gestaltet wird wie vor 200, 300 Jahren.

Um neue musikalische Ausdrucksformen mit traditionellen zu verbinden, werden in den Gottesdiensten gern Lieder aus weit auseinander liegenden Epochen eingesetzt. Das Ergebnis ist häufig nicht überzeugend.

Der Grund ist, dass die Liturgie keine homogene Klanggestalt aufweist, weil die Lieder jeweils in einem anderen Stil begleitet werden. Ein Choral aus dem siebzehnten Jahrhundert wird meist mit einem entsprechenden Satz versehen, während ein modernes Lied mit ganz einfachen Akkorden gespielt wird. Dann gibt es natürlich starke Stilbrüche, die jeder spürt.

Die musikalischen Bestandteile des Gottesdienstes müssen in einer verbindenden Form zusammengehalten werden, die sich nicht an einzelnen Stilen orientiert. Musikalische Einflüsse verschiedener Herkunft und Zeiten zu einem Klangbild umzuformen und sie neu zur Wirkung zu bringen, darin sind Jazzmusiker erfahren. Jazz kann deshalb eine Brücke schlagen zwischen der jahrhundertealten Tradition der Kirchenmusik und modernen Formen von Musik.

Die Kirchenmusiker sollten sich von der reinen Orgelbegleitung lösen und andere Instrumente und Musiker einbeziehen. Sie können so auch in den Landgemeinden viele Leute aktivieren und in die Gestaltung des Gottesdienstes einbeziehen.

Wir müssen daran arbeiten, dass die Liturgie wieder intensiv erfahren werden kann, sinnlich und auch geistlich.

Das Gespräch führte Gunnar Lammert-Türk.

Information:

Uwe Steinmetz hat Saxophon und Musiktheorie in Berlin, Bern, Indien und Boston studiert. Er arbeitet freiberuflich als Jazzsaxophonist und Komponist für Kirchenmusik und unterrichtet an der Hochschule in Rostock Saxophon und Jazzgeschichte. Seit 2015 entwickelt er am Liturgiewissenschaftlichen Institut der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland bei der Universität Leipzig entwickelt er Gottesdienste mit Jazzelementen und forscht über den Beitrag des Jazz zur Klangfarbe des Lutherischen Gottesdienstes international, zudem schreibt an den Universitäten Göteborg und Oxford seine Doktorarbeit zum Verhältnis von Jazz, Kirche und Liturgie. Mit dem Organisten Daniel Stickan verbindet er in ihrem Projekt „Waves“ Jazz und Kirchenmusik in verschiedensten Formen. Er lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Berlin und ist Mitglied der Gemeinde der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin.
www.u-musik.us // www.wavesmusic.de